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Fotos:
Edith Lauenstein
leben in der stadt
E
igentlich passt der vor Wochen ausgemachte
Interviewtermin gerade gar nicht. Denn die
Dachterrasse von Ann Dörrs Privatdomizil
ist undicht, sodass Wasser in die darunter ge-
legene Wohnung eindringt. Resultat ist eine
unschöne Baustelle, die ihren geliebten Rückzugsort für
Wochen unbenutzbar macht und sie zu nervenaufrei-
benden Treffen sowie Telefonverhandlungen mit Hand-
werkern zwingt. Dass sie in dieser Angelegenheit mo-
mentan auf der Stelle tritt, ist eindeutig kein bisschen
nach dem Geschmack der 70-Jährigen. Im Vergleich zu
umständlich-komplizierten Zeitgenossen, die für jede
Lösung ein Problem parat haben, ist sie genau das Ge-
genteil: Lage sondieren, Ärmel aufkrempeln, Herausfor-
derungen in Angriff nehmen. Dass dieser pragmatische
Lösungsansatz ihr Leben wie ein roter Faden durchzieht,
wird in den folgenden anderthalb Stunden klar. Nachdem
Ann Dörr ihrem Ärger erst einmal Luft gemacht und tief
durchgeatmet hat, lässt sie nämlich auf dem großen
Korbsofa im lichten Verkaufsraum von „Africa & House“
in der Hohenzollernstraße 50 vis à vis ihres Designermo-
deladens „Kandis und KandisMann“ jenen Weg Revue
passieren, der sie vom Ruhrgebiet über spannende Stati-
onen hierher nach Schwabing geführt hat.
Vom Secondhand-
Laden zum
Africa
&
House
„Eine Vision, wo ich genau hinwollte, hatte ich nicht“,
verrät die seit fast vier Jahrzehnten erfolgreich agieren-
de Geschäftsfrau. „Trotzdem war mir klar, dass ich an-
ders als mein Umfeld war, das mich mit ‚Die spinnt!
abstempelte – eine Eigenschaft, die ich erst Jahre später
als Stärke annehmen konnte, nachdem sie mir zuvor wie
eine Schwäche erschienen war.“ Um sich von ihrer uner-
freulichen Familie zu verabschieden, hat sie schon mit
16 geheiratet, sich in dieser nur zwei Jahre dauernden
Ehe aber schnell gelangweilt und ist nach der Scheidung
in Paris gelandet, um dort ihr Französisch aufzubessern
und als Verkaufsmodel einer Großhandelsfirma zu job-
ben. Danach setzte sie ihr ziemlich „antibürgerliches,
lockeres Bohemien-Leben“ in München fort – zunächst
mit Ehemann Nummer zwei, nach dessen Umzug als
Lehrer an die Elfenbeinküste als alleinerziehende Mut-
ter ihres 1966 geborenen Sohns Clemens. Um Geld zu
verdienen, arbeitete sie in einer Boutique und eröffnete
1973 den ersten Kinder-Secondhand-Laden Münchens,
obwohl das Tragen gebrauchter Kleidung damals alles
andere als angesagt war. Entsprechend wenig Interesse
zeigte die potenzielle Klientel daran – bis ein Artikel in
der Zeitschrift „Freundin“ für plötzliche Publicity sorgte
und das Geschäft fortan brummte. Prominente wie
Bekannt wurde Ann Dörr mit ihrem eigenen
Mode-Label Kandis, später kam dann noch frisch importiertes
exotisches Interieur dazu im Africa & House. Heute führt die
70-Jährige noch immer ihre Firma mit 35 Mitarbeitern
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