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Foto:
Wolfgang Diekamp
D
ie Tür geht auf, und ein Blick
genügt, um zu wissen, dass
dieser Mann nur Künstler sein
kann: sensibel, mit einem Blick, der
selbst, wenn er spricht, immer ein
wenig versonnen wirkt. Dabei sehr
präsent, sehr wachsam. Aber genau-
so unwillkürlich denkt man auch,
dass er eigentlich zu groß ist für die
zierliche Geige. Und wirklich sagt er
wenig später: „Wenn ich alt bin,
werde ich Bratsche spielen. Die liegt
mir vom Körperbau viel näher.“
Florian Sonnleitner ist seit 36
Jahren Mitglied eines der zehn
besten Orchester der Welt: des
Symphonieorchesters des Bayeri-
schen Rundfunks. 26 Jahre davon
als Konzertmeister – der Violinen,
versteht sich: „Die Geige war immer
selbstverständlich.“
Diese Selbstverständlichkeit hat
ihn scheinbar nicht nur begleitet,
sondern ihn durch ein Leben
getragen, das ihm weder Revolte
noch Kompromisse abverlangte.
Ein Grund dafür ist sicher seine
außergewöhnliche Begabung, die
sich schon sehr früh zeigte. „Ich
habe wohl bereits als Kleinkind
protestiert, wenn meine Mutter
Kinderlieder zwei Töne zu hoch
ansetzte.“ Auf Spaziergängen mit
seinem Vater, damals Konzertmeis-
ter bei den Münchner Philharmoni-
kern, hat er sich spielerisch die
Musiktheorie einverleibt: „Quinten-
zirkel, Harmonielehre – das ist mir
zugeflogen.“ Und lange Zeit, fast bis
jetzt mit knapp 60, sei er in der
Lage gewesen, ein Musikstück nach
einmaligem Hören auswendig
wiederzugeben – nicht nur den
eigenen Part, sondern vertikal
durch alle Stimmen. „Das sind
intellektuelle Voraussetzungen, die
helfen“, sagt er wie als Auftakt zu
seiner Vita: Mit fünf Jahren der
erste Geigenunterricht beim Vater,
mit zwölf Gewinner bei „Jugend
musiziert“, dann „die Wunderkind-
jahre“. Klingt selbstverständlich!
Sonnleitner studiert später in
München bei Gerhard Hetzel,
danach ein Jahr in Wien bei
Wolfgang Schneiderhan. Es sollte
das musikalisch prägendste werden.
Und das einzige Jahr außerhalb
Münchens bleiben. Das BR-Sym-
phonieorchester umwarb ihn da
schon. Es war die beste und einzige
Alternative, „bequem und heimat-
verbunden“, wie er war. In dasselbe
Orchester wie sein Vater oder in ein
Opernorchester wollte er nicht.
Es war die richtige Entscheidung. Er
sitzt im klassischen Eames Chair im
Arbeitszimmer der klassischen
Schwabinger Altbauwohnung und
schenkt Espresso aus der klassi-
schen Bialetti nach. Und das alles ist
so stimmig, dass man ihn selbst, im
besten Sinne, zu den Klassikern
zählen möchte. Irgendwie ist er das
ja auch, als „einer der wenigen
Aktiven, der noch mit allen sechs
Chefdirigenten gespielt hat.“ Mit
ihnen hat er die Entwicklung „zu
einem Orchester mit internationa-
ler Spielkultur“ erlebt. Man könne
das spüren, am Klang, an der instru-
mentalen Brillanz. Und wenn er
erzählt, dann spricht da unüberhör-
bar der geborene Orchestermusiker,
für den Kommunikation und Ge-
meinschaft immer Bereicherung
waren: „Ich hab mich nie als verhin-
derter Solist gefühlt. Wenn da vorne
diese Klangmasse an einem vorbei-
zieht zum Publikum – da können
ekstatische Zustände entstehen.“
Aber es geht ihm auch um künstleri-
schen Gestaltungswillen. Abgesehen
davon, „dass man als Konzertmeis-
ter Klang und Engagement eines
Orchesters wesentlich mitbe-
stimmt“, hat er immer auch die eige-
nen musikalischen Ansichten
umgesetzt: als künstlerischer Leiter
und Konzertmeister des Bach
Collegiums München und Primarius
des von ihm gegründeten Concerti-
no München und des Cuvilliés-
Streichquartetts. Dazu unzählige
Solokonzerte. Sein Markenzeichen:
Die Annäherung an die historische
Aufführungspraxis, „wenn auch
nicht mit zwingender Konsequenz.
Die eigene Handschrift ist mir
wichtiger.“ Zum Glück: Die Auffüh-
rungen seiner Bach-Solosonaten
sind legendär – alle sechs, über
dreieinhalb Stunden, erzählt er,
danach seien das Publikum und er
„geistig frisch“ gewesen.
Mit Eitelkeit hat die eigene Hand-
schrift nichts zu tun. Viel mehr mit
dem Dienst an der Musik. Und er
blickt zurück auf die etwa 3000
Konzerte, die er gespielt haben
muss, und sagt: „Mein Anliegen
wäre, dass ich während all der Jahre
den Leuten die Komponisten und
ihre Zeit besser verständlich
gemacht habe.“ Schließlich müsse
Musik auch immer wieder eine
Brücke schlagen zu dem, was für
das heutige Leben nutzbar sein
kann: die enorme emotionale
Bandbreite. „Musik sind gewonne-
ne Gefühle, emotionale und
rationale Appelle“. Will heißen:
Beethoven wollte die Welt verbes-
sern, Bach seinem Gott huldigen.
Mit diesem Anspruch könne der
Interpret den Menschen zeigen,
dass Musik ein wesentlicher
Bestandteil des seelischen Haus-
halts ist. Da hat er recht. Selbstver-
ständlich! BARBARA SCHULZ
„Kultur ist einer der großen Klebstoffe,
der die Gesellschaft zusammenhält“