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szene-Scout
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F
reitagvormittag, eine Boutique in der Innen-
stadt, die gurrende Männerstimme um-
schwirrt meine Ohren: „Oh dieses rote Kleid
steht dir besonders gut. Dreh dich noch einmal –
herrlich! Wobei mir das blaue zu den Stiefeln auch
sehr gefällt.“ Weich flötet es zurück: „Ach du, wie
gut du mich immer berätst, soll ich auch dieses hier
noch probieren, das kurze?“ „Ja bitte“, jubelt er.
Nicht zu fassen, sind die echt?
Als das Hin und Her glücklicher Komplimente immer
so weiter durch den Laden plätschert, schiebe ich mit
brennendem Detektiv-Blick Kleider auf der Stange
beiseite. Ich sehe: Eine Frau um die 75, in karierten
Gummistiefeln, die tänzelnd ein knallbuntes Blumen-
kleid trägt. Sie ist keine Schönheit, hat offensichtlich
ein Hüftproblem. Vor ihr sitzt ER: Um die 80, in
den Ohren Hörgeräte. Das Paar hat gerötete Backen,
offensichtlich die Zeit vergessen und strahlt sich an.
So schön! Ich wollte sie nicht stören, sonst wäre ich
ihnen um den Hals gefallen, hätte ihnen noch mehr
Kleider gebracht, sie ermutigt, sich immer nur so bunt
schillernd zu zeigen, wie sie sich jetzt sahen.
So zog ich mich gerührt zurück, platzte vor Neid.
Und stellte mir Fragen. Wieso bin ich eigentlich so
überrascht? Wer befiehlt uns, dass man mit fort-
geschrittenem Alter demütig stumm zu Schlank-
macherschwarz, Mausgrau und Popelinbeige greifen
soll? Müssen wir unsere Optik jenseits der 40
wirklich Asphalt oder verwesendem Herbstlaub
anpassen und so quasi aus dem Straßenbild ver-
schwinden wie der chinesische Künstler Liu Bolin?
Sind nicht weltweit gefeierte Mode-Ikonen wie die
heute achtzigjährige Anna Piaggi oder Patricia Field
mit ihren 70 Jahren längst Fashion-Omis? Designe-
rin Vivienne Westwood (70) trägt rote Haare, High
Heels und Korsagen. Die ist ja auch Ex-Punk,
meinen Sie? Aber sind wir nicht alle irgendwie Ex,
trotzdem noch am Leben und sollten das zeigen?
Ein Tätowierer erzählte kürzlich von einer Kundin
um die 65, die gewartet hatte, bis ihr Mann starb,
bevor sie sich ihren Traum erfüllte: Er sollte ihr
König Ludwig ins Dekolleté stechen. Rührend oder
traurig? „Man kann das Körperliche nicht vom
Geistigen trennen“, meinte mal die Westwood.
In Londoner Vorortbusse drängen reife Damen mit
Hüten, die aussehen, als würden sie für ein Fest
beflaggt nach Hause segeln. Da dreht sich kein
Girlie pikiert nach über 60-Jährigen um, die Bein
zeigen und hohe Schuhe. Das sind wenigstens keine
Frauen, die versuchen, sich in einer „jungen“
Zeitblase einzufrieren und sich damit vor allem
selber stressen. In gewissen Luxus-Erholungsorten
sieht man zunehmend mehr Menschen, die diesel-
ben Mode-Musts tragen und mit den Jahren das
gleiche Gesicht, weil sie zum selben Schönheits-
Chirurgen gehen. Gefährlich beängstigend sind
doch nur die Grauzonen im Kopf und nicht die
darauf. In so vielen Ländern ist es normal, zu
zeigen, dass man einen eigenen Stil hat, dabei
Fantasie und Freude am Leben: bauchfreie Saris in
Indien, schrille Hüte in Nordeuropa, grellbunte
Kleider in Südamerika. Lieber eine heiß gestylte
Alte sein, als eine verkniffene (Pseudo-)Junge,
nach der sich keiner umdreht, so oder so. Her mit
den starken Reizen für müde Augen, je oller, desto
doller. Stürmt die bunten Boutiquen!
Ach du stylische Alte!
Muss man sich
wirklich dezenter
kleiden, wenn
man älter wird?
Szene-Scout Karen
Cop hat keine Lust
auf unsichtbare
Leute, nur weil
die über 40 sind