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tretch your view“, fordert
Okwui Enwezor. Er spricht
Englisch. Natürlich hat man schon
deshalb den Eindruck, dass durch
das Haus der Kunst ein neuer Geist
weht: internationaler und elegan-
ter. Seit Oktober 2011 ist er der
neue Direktor. Ein Typ, der
distanzierter wirkt als sein Vor-
gänger Chris Dercon und der sagt:
„Wenn ich etwas erreichen will, ist
es, dieses Gebäude um einen Zenti-
meter höher schweben zu lassen.“
Spätestens hier schnappt man
irritiert nach Luft. Schließlich
spricht Okwui Enwezor von
diesem schwerfälligen Monumen-
talbau der Nazis, dem Kunst-Ko-
loss an der Prinzregentenstraße,
an dem selbst der Eingang schwer
zu finden ist. Von der inhaltlich
bitteren Fracht aus der Vergangen-
heit ganz zu schweigen: der
Ausstellung „Entartete Kunst“ von
1937, der Zeit als US-Offiziers-
Casino nach dem Krieg und dem
Schriftzug „Allianz Arena“ auf dem
Dach im Jahr 2006. Kann dieses
Haus jemals fliegen?
Der gebürtige Nigerianer aus New
York hat eine Design-Agentur
beauftragt, mit dem Auftritt des
Hauses zu spielen und nach einer
„neuen Identität“ zu suchen. Die
Buchstaben „HAUS DER KUNST“
ziehen sich jetzt an der Fassade
entlang, drücken sich auf Plakaten
aneinander, spreizen sich wieder.
Leicht wirkt das eher nicht.
Enwezor schickte Bagger, um das
vorher verschlossene linke Trep-
penhaus zum Obergeschoss zu
öffnen. Die Buchhandlung ist aus
der Mittelhalle verschwunden. Die
Halle soll modern sein, großzügig
einladen und – wie ursprünglich
von Baumeister Paul Ludwig Troost
gedacht – zu den symmetrisch von
ihr ausgehenden Aufgängen und
Räumen weisen. Dunkle elektroni-
sche Säulen sollen die klassizisti-
sche Formensprache aufgreifen
und bereits im Foyer auf die neue
Öffnung einstimmen. „Es gibt in
Architektur und Geschichte des
Hauses ein Potenzial, das wir he-
ben können wie einen bisher nicht
geborgenen Schatz: es ist die Innen-
architektur, die die Möglichkeit einer
einladenden Offenheit hat.“
„Spannkraft, Klarheit, Flexibilität“
nennt Enwezor die wichtigsten
Schlagworte für sein Konzept. Und
steht einfach da, leichtfüßig,
perfekt gekleidet im feinen Anzug,
für einige kaum zu fassen. „Finden
Sie auch wie Chris Dercon, dass die
Bäume ums Haus der Kunst wie
Schamhaar wirken?“, versucht ihn
ein Journalist bei der Pressekonfe-
renz zu provozieren. Chris Dercon,
Chris Dercon... Enwezor findet
keine Antwort. Es tue ihm leid,
dass er nicht so „animated“ sei wie
der Belgier. Er wolle „kein Impre-
sario“ sein. „Mein Hintergrund ist
international,“ entschuldigt er sich
fast dafür. „Ich kam, weil Leute
wissen, was ich intellektuell und
fachlich drauf habe.“ Okwui
Enwezor, 48 Jahre, leitete die
documenta 11, kuratierte Ausstel-
lungen in den USA, Biennalen in
Südafrika, Sevilla, Dublin, wurde
zum Hauptkurator der Triennale
in Paris ernannt. Er bewegt sich
selbstverständlich auf globalem
Parkett, mit eben jener Leichtig-
keit, die dem Haus der Kunst fehlt.
Allerdings wird es eine Weile
dauern, bis man seine Handschrift
sehen kann. Zur Ruff-Ausstellung
wird er einen Beitrag schreiben.
Diese „75/20“-Schau zum 75.
Geburtstag des Hauses und
20-jährigen Bestehen als Stiftung
blickt zurück. In der Folge zeigt
eine Dauerausstellung zur Ge-
schichte, was Enwezor unter einem
„reflexiven Museum“ versteht.
Wissenschaftliche Relevanz soll
das Haus der Kunst in Zukunft
beweisen, außerdem nicht nur
ausstellen, sondern Künstler
herausfordern. Ein zeitgenössi-
scher Künstler von internationa-
lem Rang wird extra für die
Mittelhalle ein Kunstwerk schaf-
fen, das dann ein Jahr lang dort zu
sehen sein wird, bis der nächste
kommt. Im Herbst 2012 beginnt
die Reihe, noch bevor Okwui
Enwezor seine erste eigene Aus-
stellung am 23. November eröff-
net: „ECM – Eine kulturelle
Archäologie“, über die Wegbereiter
des neuen Jazz. Über Keith
Jarrett, Chick Corea und sogar
Jean Luc Godard. Es wird Livemu-
sik, Filme, Diskussionen und
Workshops geben, „Welturauffüh-
rungen, Europapremieren und
exklusive Kooperationen mit
Künstlern, Musikern und Filme-
machern.“
Regen prasselt auf das Dach.
Okwui Enwezor irritiert das nicht.
Im Haus der Kunst bebt es,
während die Pläne im Raum
schweben. Oder fliegt es schon?
Der neue Direktor steht, schaut,
bleibt distinguierter Herr. Das
kann spannend werden!
KAREN COP
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Foto:
Andreas Gebert
Enwezor vebindet Offenheit und
Leichtigkeit mit intellektuellem Tiefgang