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S
ie kennen Italien? Dachte ich auch.
Bis ich in Rom in den Bus stieg, nach
Pescasseroli, Provinz Aquila, Herz
der Monti Marsicani. Plötzlich
schweigt das Land. Jahrhunderte
alte Buchenwälder werden dichter. Die Gipfel
des Apennin strecken sich auf 2000 Meter.
Hier ist es so einsam, dass Wölfe schlafenden
Schäfern Lämmer stibitzen, Wildschweine in
Gärten suhlen und sich der Bär beim Bäcker in
Bisegna selbst bedient. Erzählt man sich so.
Was ist wahr, was nicht? Als wir durch die stock-
dunkle Nacht um eine Kurve biegen, leuchtet
eine weiße Kuh am Straßenrand, still wie Bud-
dha. Manchmal fühlt man sich wie im Film
„Goodbye Lenin“, als ob jemand Kulissen aufge-
baut hätte. Doch der Duft wilder Kräuter bahnt
sich wirklich den Weg in die Nasen. Das Him-
melszelt spannt sich weit und klar, voller Sterne,
so viele und ganz nah – „o dio“, wo bin ich?
Während in den Alpen Wanderer in Schlangen
die Berge hochstapfen, läuft man in den Ab-
ruzzen allein über Hochplateaus, auf denen
der Safran lila-rot blüht. Die Region ist ein
Schatzkästchen der Artenvielfalt, mit 2300
Pf lanzenarten, vielerlei Orchideen, oder
„Hundszungen“. Die sollen bei leichten Verlet-
zungen helfen, und bei Sonnenbränden auch.
Gut zu wissen, denn durch die Nationalparks
kann man stundenlang wandern, ohne einer
Menschenseele zu begegnen. Fast die Hälfte
des Berggebiets steht unter Naturschutz.
G
eier und Königsadler fliegen durch den
Nationalpark Abruzzen, den ältesten
der insgesamt vier Parks in der Region.
Der Boden ist vielerorts aufgerissen von Wild-
schweinen. „Davon gibt es viel zu viele,“ sagt
Massimo, unser Bergführer. ZumGlückmachen
die Abruzzer aus den Tieren so tolles Ragout
oder Salami. Der Ranger trägt ein paar Würste
für uns durch den Elfenwald, hoch, zum Rifugio
di Iori, einem kleinen Häuschen, in dem man
übernachten kann, wenn man Bären beobach-
tenmöchte. Die beste Zeit zum„Bear-Watching“
ist morgens um 5 Uhr. Massimo deutet auf eine
Losung: „Die ist von einem Wolf. Er hat Hirsch
gegessen.“ Massimo lacht, und das Echo hallt
ungestört bis zumParco del Sirente, der zugege-
benermaßen nah ist, wenn man auf La Rocca
steht und den Blick vom Grat über sanfte Kup-
pen in tiefe Täler treiben lässt. Etwa auf die
„Transumanza“, den Weg, über den die Schäfer
ihre Herden lange vor Christus nach Apulien
und wieder zurück trieben, bis zum 19. Jahr-
hundert. Das halbnomadische Weidetreiben
prägte die Region. Der Käse, den es überall gibt,
ist „Pecorino“, das heißt „kleines Schaf“. Aber
auch ein Weißwein nennt sich so, weil die Scha-
fe früher die süß-pikanten Trauben fraßen.
Um Rocca Calascio kreisen Raubvögel. In dem
alten, einst verlassenen Dorf drehten Michelle
Pfeiffer und Matthew Broderick „Der Tag der
Falken“, der im 13. Jahrhundert spielt. Als Su-
sanna Salvati und Paulo Baldi herkamen, gab
es nur Ruinen, die sie nun als „Refugio“ auf-
bauen, als Oase für Gäste (www.rocca-calascio.
REISEINFOS
speziellen Tour ist alles buchbar.
veranstaltet, auch in den Abruzzen.
mit Übernachtung auf einfachen Pritschen.
„Tholos“ (Stein-
häuser) schütz-
ten Schäfer
früher in der
Nacht vor Regen
und Schnee.
Heute bleiben die
Schäfer nur noch
selten über Nacht
in der Wildnis