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Ursula Kaufmann
Tänzern und dem Publikum ein vielfältiges Repertoire
anzubieten. Und: Es ist die Aufgabe eines Direktors.
Womit Sie mehr ins Münchner Kulturleben eingreifen,
als Sie das als Choreograph oder Tänzer könnten.
Ich wurde nicht als Choreograph engagiert. Ich habe eine
neue Redaktion für zwei Werke auf der Basis schon beste-
hender Petipa-Werke, „Dornröschen“ und „Le Corsaire“
gemacht. Das Handwerk aber, das sollen die übernehmen,
die ich eingeladen habe – Duato, Ek, Kylián, Neumeier,
Forsythe, Robbins und natürlich Balanchine. Was das Tan-
zen angeht: Ich bin ja noch ab und zu auf der Bühne, aber
es sollen die Neuen, die Jungen tanzen. Das technische
Niveau ist enorm gewachsen in den letzten 20 Jahren.
Und doch ist vielen die Basis zu klassisch …
Das ist ein Vorurteil. Also kein richtiges Urteil. Wahr ist,
dass wir klassische Werke wahrhaftig und elegant auffüh-
ren. Diese Compagnie ist durch ihr reichhaltiges Reper-
toire aber gerade in der Moderne versiert. Wir tanzen
zeitgenössische und klassische Werke im Verhältnis eins
zu eins. Doch Mats Ek, Kylián oder William Forsythe –
das berührt manche Zuschauer wahrscheinlich nicht so
sehr wie „Schwanensee“, „Nussknacker“, „Dornröschen“
oder „Onegin“. Außerdem haben wir es mit vielen Zu-
schauern zu tun, die zum ersten Mal kommen, und die
kann man mit Geschichten ins Ballett hineinziehen, mit
denen sie sich identifizieren können. Dann verstehen sie
die Bewegung. Unser Schulsystem in Deutschland hat ei-
nenMakel. Es erzieht weder musikalisch noch tänzerisch,
sodass wir „unbeschriebene“, neue Zuschauer haben,
ohne Erfahrung mit dem Tanz, die sie aber suchen.
Aber es gibt eben auch die, die mehr Moderne wollen.
Ja, wir haben natürlich viele Zuschauer, die sich nur
zeitgenössische Werke anschauen. Es gibt sehr viele
kleine Compagnien, die zeitgenössische, aber keine
klassischen Werke tanzen können. Aber wir haben ei-
nes der größten Theater in Deutschland. Die Oper ver-
zichtet auch nicht auf „Tosca“, „Eugen Onegin“, Mozart.
Warum sollten wir das tun? Weil jemand den klassi-
schen Tanz für überholt hält?
Höhepunkte während Ihrer Zeit hier in München?
Es sind die Juwelen aus der frühen Zeit: drei Ballette von
John Cranko: „Der widerspenstigen Zähmung“, „Ro-
meo und Julia“, „Onegin“. Und es fand die Wende zur
Moderne statt. Mats Ek mit seinem skandinavischen,
ich würde sagen, einem skurrilen Stil, der mit sehr ty-
pischen Bewegungen die Zustände des Unterbewusst-
seins choreographiert. William Forsythes „Limb’s The-
orem“, „Artifact“, Jiří Kylián – durch sie haben die
Compagnie und die Zuschauer sehr viel dazugelernt.
Dann ist die Aufführung von Kenneth MacMillans
„Lied von der Erde“ zu Gustav Mahlers gleichnamiger
Musik immer ein ungewöhnliches Erlebnis. Am Ende
herrscht zunächst Stille, es ist ein Gewicht spürbar, das
auf den Zuschauern liegt. Und während der Verbeu-
gungen merken Sie plötzlich die sich steigernde Inten-
sität des Applauses – die Menschen haben begriffen,
was sie gerade miterlebt haben. Das sind die wertvolls-
ten Augenblicke.
Sie haben Preise bekommen, 2006, 2007, 2008, 2012
– wie wichtig sind Ihnen Auszeichnungen?
Es war jedes Mal eine unerwartete Freude und Bestäti-
gung unserer Arbeit. Ich sage „unserer“, denn ich arbeite
eng mit meinem Team, dem Dramaturgen, dem Ballett-
meister zusammen, sodass ich diese Ergebnisse als ge-
meinsame Arbeit sehe. Die Preise – einmal Europas, ein-
mal Deutschlands beste Compagnie, eine chinesische
Auszeichnung, ich persönlich habe den Deutschen Tanz-
preis erhalten – sind vielleicht auch der Beweis dafür,
dass es hier ein Ensemble gibt, das zwar Bayerisches
Staatsballett heißt, das aber außerhalb Münchens dafür
sorgt, dass wir geschätzt werden. Der Prophet im eige-
nen Land gilt ja nicht viel.
(lacht)
Was beeindruckt sie an München am meisten?
Ich mag den Patriotismus. Seit den 70er Jahren hat sich
München verändert. Damals war es einfach eine Haupt-
stadt, jetzt ist es eine internationale Hauptstadt. Dabei
ist es bodenständig geblieben. Ich mag den Humor und
die Fähigkeit, von außen zu absorbieren. Das betrifft die
Menschen. Was die Stadt betrifft: Sie ist einfach wun-
derbar. Die Bausubstanz ist gewachsen, selbst wenn im
Krieg viel kaputt gegangen ist. Es ist die Identität. Ich
habe nach meiner Emigration in Düsseldorf gelebt. Die
Neue Zuschauer lassen
sich mit Geschichten
gewinnen, die
sie auch verstehen
„The Old Man and Me“,
Judith Turos, Ivan Liska