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rüher Abend im Supermarkt: Eine elegante Dame
in schwarzer Seidenbluse und goldgelbem Rock
versucht, einen Joghurt im oberen Kühlregal zu
erreichen. Dabei dient ihr ein Gehwägelchen als Stütze,
es ist ihr aber außerdem auch imWeg. Ich helfe ihr. „Ja,
danke“, sagt sie und schaut mich dann eindringlich an.
„Sehen Sie sich das gut an: Das ist der Herbst, der gol-
dene Herbst des Lebens. Dass ich nicht lache!“ Sie muss
einmal sehr schön gewesen sein. Ihre ganze Erschei-
nung erzählt von einem kultivierten Leben. Traurig
schaue ich ihr nach, wie sie um Haltung bemüht aus
dem Laden geht. Draußen an den Ästen der Bäume hal-
ten sich noch letzte Blätter fest. Die düsteren Straßen
verbreiten Stimmungsbilder für den Herbstblues.
Die späte Wirklichkeit ist offenbar doch keine endlose
Erntedank-Party für getane Arbeit. Oft versucht man
bloß, den Goldanteil im Alltag aufzustocken, blondiert
das Haar, trinkt nur noch besten Whisky, trägt – so
vorhanden – nur noch echten Schmuck. Manch Kerl
vergoldet einfach eine junge Frau, damit sie neben ihm
schillernd von seinen Goldzähnen ablenkt, ihn mit in
Clubs nimmt, und es sich fast so wie früher anfühlt.
Offen bleibt, wie goldig man sich wirklich fühlt. Abgese-
hen davon, dass Wirtschaft und Werbebranche
endlich die Kaufkraft der Oldies jenseits von Blasen-
hilfsmitteln entdeckt haben. Die „Süddeutsche Zeitung“
behauptete jüngst sogar, „ältere Herrschaften erleben
gerade so etwas wie ihren zweiten Frühling in der
Mode.“ Ich fände es ja schöner, den zweiten Frühling
rundum exzessiver auszuleben als den ersten. Schließ-
lich kann man es sich nach den verantwortungsvollen
Kinder- und Berufszeiten leisten, unbeschwerter loszu-
legen als in der Jugend, in der man seinen Körper auch
schonen musste, damit er eine fruchtbare Zukunft hat.
Aber jetzt? Könnte man endlich ladylike Zigarillo rau-
chen! Oder sich hemmungslos verlieben, als gäbe es
kein Gestern. Gerade erst erzählte mir eine Nachbarin
von einem frisch verliebten Pärchen im Pflegeheim in
unserem Viertel. Beide haben die 80 längst hinter sich
gelassen, sind schwer dement, damit völlig ungeplagt
von Gewissensbissen, glücklich aufgehend im Gleich-
klang ihrer Gefühle füreinander. Die Blöde ist in diesem
Fall allein seine noch immer treusorgende Ehefrau. Die
zwar nach wie vor seine Hemden bügelt, deren Namen
der rosig strahlende Fremdgeher aber längst vergessen
hat. Bei dem Gedanken, dass mir einmal so eine Rolle
zufallen könnte, fällt mir nur noch die Flucht in angeneh-
mere Gefilde ein.
Zur näheren Betrachtung dieser Option verabrede ich
mich mit einer Bekannten im Café. Sie ist gelernte Fri-
seurin, hat immer wieder andere Jobs gemacht, jetzt,
mit Anfang 60, baut sie sich auf Barbados ein Haus. Das
geht dort mit wenig Geld, weniger, als man hier zum
Ausgleich unangenehmer Nebenwirkungen des Alters
braucht . „Wenn ich in ein paar Jahren alt bin, ziehe ich
ganz hin.“ Wobei sie sich keineswegs vorstellen kann,
dort altersmilde im Schaukelstuhl zu wippen, während
ihr Kopf Kapriolen schlägt wie mit 25. Sie will noch
künstlerisch tätig sein, einen Internet-Shop aufmachen,
vielleicht gründet sie eine Klinik für Rheumageplagte,
„falls ich einen Sponsor finde“. Das dürfte eigentlich
kein Problem sein, wenn man bedenkt, dass es auf der
Antillen-Insel das ganze Jahr über gleichmäßig warm
ist, nicht zu kalt, nicht zu heiß. Denn es gibt auf Barba-
dos keinen Herbst und keinen Frost. Sogar die Männer
sollen in der Karibik toll sein und Frauen grundsätzlich
wie Göttinnen behandeln, egal, ob jung oder alt. Also,
wenn das alles hier nicht sehr viel hübscher wird, steht
für meine goldige Zukunft fest: bye bye, Herbstblues.
Ciao, alle miteinander, mein Geld kriegt ihr nicht. Golde-
ne Zeiten erfordern eiserne Mittel. Ich empfehle das
Flugzeug ins sonnige Altersparadies!
szene-Scout
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Goldener Herbstblues
Wie goldig kann
es werden, wenn
man in den Herbst
des Lebens
kommt? Szene-
Scout Karen Cop
auf den Spuren
aller Möglichkeiten
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