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Fotos:
Wilfried Hösl
München hat erfüllt, was ich
erhofft und ersehnt hatte
g
oliving.de: Sie wollten eigentlich
Komponist werden, Herr Nagano.
Karriere haben Sie aber als
Dirigent gemacht. Kreatives
Reproduzieren anstelle innovati-
ven Produzierens also?
Kent Nagano: Dirigieren und
Komponieren sind vollkommen
unterschiedliche Disziplinen.
Trotzdem haben sie vieles gemein-
sam, und zwar im Sinne des Produ-
zierens. Dirigieren, ebenso wie jede
nachschöpferische Tätigkeit als
Sänger oder als Instrumentalist, ist
in jedem Fall ein Produzieren, weil
es darum geht, den Geist, die
kreative Motivation des Komponis-
ten zu realisieren, die sich im oder
auch hinter dem Notentext verbirgt.
Ihr Schwerpunkt im Konzert ist
die zeitgenössische Musik.
Das stimmt so nicht ganz. Meine
Domäne ist keineswegs die zeitge-
nössische Musik. Sie spielt in
meinem musikalischen Weltbild
eine Rolle, ja, gewiss. Aber die Werke
von Bach, Beethoven, Bruckner sind
für mich nicht weniger aktuell und
bilden in ihrem Anspruch eine
Herausforderung an unsere zeitge-
nössischen Vorstellungen.
Wenn Sie eine Oper dirigieren,
kann man beobachten, dass Sie
oft lächeln, mit den Sängern
mitgehen. Ist Oper Ihnen näher
als die sinfonische Musik?
Oper und Konzert sind für mich
zwei unterschiedliche und dabei sich
ergänzende musikalische Ausdrucks-
formen. Ich bin gleichermaßen
fasziniert von musikalischem
Theater wie von Konzertmusik.
Die Oper gilt als Ausschweifung,
als Darstellung menschlicher
Abgründe …
Die Oper ist hervorgegangen aus dem
Bedürfnis, die innere Komplexität
menschlicher Existenz im Spannungs-
feld von Individuum und Gesellschaft
in einem dramatischen Spiel darzu-
stellen und begreifbar zu machen.
IhreThemen kennen wir: Liebe, Tod,
Macht, Täuschung, Betrug. Damit
bewegt sich die Oper dort, wo die
scheinbaren Normalitäten unserer
Existenz aufgebrochen werden.
Sie sind aufgewachsen in Morro
Bay, einem Ort in Kaliforniens
wildester Natur. Inwieweit hat Sie
die Verbindung von Natur und
Musik beeinflusst?
Diese unmittelbare Berührung mit
der Natur hat mir den Blick auf die
schöpferische Fähigkeit des Men-
schen in einem übergeordneten
Kontext geöffnet.
Sie glauben, ein Stück sei in seiner
Gesamtheit aus seinen Einzelhei-
ten heraus zu verstehen, die
eigentliche Bedeutung liegt für
Sie also im Detail. Überfordern
Sie damit Ihr Publikum nicht?
Es gehört zu den Grundprinzipien
der klassischen musikalischen
Ästhetik und Formensprache, dass
das Ganze aus dem Detail hervor-
geht. Bei keinem Komponisten kann
man das besser studieren als bei
Beethoven. Es ist seine Leistung,
dass er diesen Zusammenhang so
deutlich gemacht und in seiner
Musik auskomponiert und zum
Ausdruck gebracht hat. Das erklärt
letztlich auch seine große Beliebt-
heit weltweit und den einzigartigen
Rang seiner Kompositionen. Detail-
genauigkeit und der Blick aufs Detail
bedeuten gerade nicht Überforde-
rung, sondern öffnen den Hörern
den Weg zum Verstehen und Erleben.
Ihre ungewöhnlichen Werkzusam-
menstellungen sind anspruchsvoll
für das Publikum. Ihre Intention?
Dahinter steht das Bestreben, dem
Konzert einen verbindlichen
Charakter und Sinn zu geben, den
die Hörer nachvollziehen können
und der ihnen ein „ungewöhnli-
ches“ Erlebnis schenkt.
Sie haben in München das klassi-
sche Opern-Repertoire aufgebro-
chen. Fühlten Sie sich damit in
München akzeptiert?
Ja, gleich in der ersten Spielzeit
06/07 haben wir dem Publikum zwei
neue Opern vorgestellt und zugemu-
tet. Das war ein erstaunlicher Erfolg,
der deutlich gemacht hat, dass man
das Münchner Publikum durchaus
herausfordern kann, wenn dahinter
Überzeugung und Verantwortung
erkennbar werden.
Sie sagten einmal, dass Sie, als Sie
bei dem Komponisten Olivier
Messiaen in Paris gewohnt haben,
die Musik von Ravel, Debussy und
Saint-Saëns erfühlen konnten,
indem Sie in deren Umfeld lebten.
Ging Ihnen das auch in München
so – und mit wem?
Ich habe in meinem Leben wahrneh-
men und feststellen können, dass die
urbanen Kulturen ihre jeweils
eigenen Traditionen und entspre-
chend auch atmosphärischen
Verhältnisse haben. München ist
diesbezüglich ganz anders als Paris.
In München erlebe ich musikalische
Kulturgeschichte über die Stationen
Orlando di Lasso, Mozart, Wagner,
Richard Strauss und Carl Orff. Diese
Geschichte ist vorzugsweise durch
theatralische Produktionen gekenn-
zeichnet, und tatsächlich erlebe ich
das urbane SzenariumMünchen als
eine Art Theatrummundi.
München war für Sie die Erfüllung
einer Sehnsucht, geschürt von
Ihrem Lehrer Wachtang Korisheli,
der hier studiert hatte. Hat die
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